Fankult auf dem Friedhof

Seit Veröffentlichung der dritten und finalen „Dark“-Staffel auf dem Streamingportal Netflix pilgern Fans aus aller Welt auf den Südwestkirchhof Stahnsdorf.

Die Fans kommen in Gelb. Sie tragen Friesennerz, wie Jonas Kahnwald, gespielt von Louis Hofmann, im Netflix-Serienhit „Dark“. Und auch Olaf Ihlefeldt, Chef des Südwestkirchhofes in Stahnsdorf, hat sich von seinen Gärtnern inzwischen so eine Joppe besorgt. Sie ist Erkennungsmerkmal wie Eisbrecher. Er hängt sie hin und wieder in der Kapelle auf, um mit den Serienfans ins Gespräch zu kommen.

Die nach dem Vorbild der norwegischen Stabkirchen gebaute und 1909 eingeweihte Holzkirche ist einer der Schauplätze der Mystery-Serie, deren dritte und finale Staffel im Juni auf dem Video-Streamingportal Netflix veröffentlicht wurde. Fans aus aller Welt pilgern seitdem auf den Südwestkirchhof bei Potsdam, der mit seinen über 200 Hektar und den 130.000 Grabstellen zu den größten und bedeutendsten Friedhöfen Deutschlands gehört. Sogar die britische Königin Elizabeth II war  schon zu Besuch.

Ihlefeldt spricht von einem Hype, der mit den letzten acht Episoden ausgebrochen ist. „Wir haben hier plötzlich ein ganz anderes, ein junges Publikum“, sagt er. Es spürt die Drehorte auf, macht Selfies vor der Kapelle und in der Kapelle, die in der Serie eine Kirche ist und in Winden, der fiktiven Kleinstadt, in der „Dark“ spielt, steht. Auch die Parkbank an der frei gehaltenen Sichtachse mit der Kapelle im Hintergrund ist seit „Dark“ zum beliebten Fotomotiv mutiert. Sie stand schon immer da, aber seit Hofmann & Co. auf ihr saßen, ist sie in den Fokus der Motivjäger gerückt, die sie auch schon mal ein paar Meter verschieben – für den perfekten Bildwinkel.
„Dark“ ist die erste deutsche Netflix-Produktion. Die komplexe Geschichte, die Regisseur Baran bo Odar und Drehbuchautorin Jantje Friese erzählen, erstreckt sich über mehr als 100 Jahre und deckt die Geheimnisse vierer eng miteinander verbundener Familien auf. 

Ihlefeldt gibt – mit Blick auf den Fankult – unumwunden zu, anfangs Bedenken gehabt zu haben, die Situation „eingefangen zu bekommen“, ein ungestörtes Miteinander zu gewährleisten: zwischen Trauergesellschaften – auf dem Friedhof finden pro Jahr durchschnittlich 620 Beisetzungen statt – und den Serien-Fans, die Stahnsdorf nun bevölkern. Doch die Sorge erwies sich als unbegründet: Der Respekt vor dem Ort, den Verstorbenen und die gebotene Zurückhaltung, sobald Trauergäste in der Nähe sind, kommen von ganz allein. „Viele denken im ersten Moment, das ist nur eine Kulisse“, erklärt der Friedhofschef.  Dann aber sehen sie, dass die Kapelle echt ist, der Übergang in die neue Welt eigentlich ein Sargaufzug und der Südwestkirchhof ein realer Bestattungsort.

Und „plötzlich sind sie ganz fokussiert darauf. Es ist ein netter Nebeneffekt“,  sagt Ihlefeldt. In  der Vergangenheit hatte er schon häufiger Drehteams zu Gast, musste aber noch nie so vielen Fans im Nachgang Rede und Antwort stehen. „Plötzlich bist du der kleine Star, weil du das Team kennengelernt hast“, erzählt er. Der Friedhofschef verfolgte die Dreharbeiten am Rande, machte dieselben Zeitensprünge wie die Schauspieler – von den 1980ern in die 1920er. Das schon mal an einem Tag. Und er war beeindruckt. Auch von den Dimensionen; das Team rückte mit einer ganzen Lkw-Kolonne an und zig Tonnen Technik und Material an, und „den Illusionen, die der Film verkauft“. In einer Szene brennt die Kapelle digital nieder – „Gruselig; das war echt Gänsehaut.“ –, in einer anderen erscheint sie – wiederaufgebaut – lichtdurchflutet, was sie in Wirklichkeit nicht ist. 

Der Südwestkirchhof ist bei Filmschaffenden beliebt: Der Regisseur Roman Polanski drehte hier für „Ghost Writer“, in den Hauptrollen: Ewan McGregor und Pierce Brosnan. Julian Rosefeldt kam für eine Episode seiner Filminstallation „Manifesto“ nach Stahnsdorf – mit Cate Blanchett. Und Elias M’Barek und Heiner Lauterbach standen hier für den Polit-Thriller „Der Fall Collini“ vor der Kamera. Dazu kommen auch immer wieder kleinere Produktionen – Daily Soaps und Krimiserien. Anfragen, sagt Ihlefeldt, gebe es viele. Drehen aber darf auf dem Südwestkirchhof, dessen Träger die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz ist, nicht jeder. „Die Bestimmung des Ortes hat absoluten Vorrang, und alles, was dem christlichen Gedanken entgegensteht, ist ein No-Go“, erklärt der Kirchhofleiter, „wir wollen deshalb ganz genau wissen, was das Filmteam vorhat“, auch Drehbuchauszüge müssten vorgelegt werden. Wolle jemand beispielsweise satanische Rituale drehen, Sektierisches – nicht in Stahnsdorf. Das Filmteam müsse sich im Klaren darüber sein, dass es sich auf einem Friedhof befinde, tagtäglich von Trauernden umgeben sei und sich auch nicht so tummeln, an- und umbauen könne wie in einem Kulissenpark, macht Ihlefeldt klar.

Für die Crew von „Dark“ kein Problem: „Sie haben unsere Wünsche ernst- und den Ort angenommen“, sagt er. Gestört fühlte sich daher auch niemand. Nur eine Friedhofsbesucherin kam einmal ganz aufgeregt in die Verwaltung. Das könne doch nicht sein, echauffierte sie sich über ein Grab, das vor ein paar Tagen noch nicht da war, und nun den freien Blick auf die Kapelle stört. Dass das nur eine täuschend echte Requisite – und längst wieder abgebaut worden war, davon konnte sie Ihlefeldt erst  vor Ort überzeugen. „Auf anderen Friedhöfen würde es vermutlich Beschwerden hageln“, sagt Ihlefeldt, nicht jedoch auf dem Südwestkirchhof. „Wir leben hier mit den Toten.“

Jedes Jahr gibt es zahlreiche kulturelle Veranstaltungen, Konzerte, eine Sommernacht, Führungen, auch für Kinder und Radfahrer und zu verschiedenen Themen. Zahlreiche Gräber bedeutender Persönlichkeiten lassen sich hier finden, darunter einige aus der Film- und Fernsehbranche: Auf dem Südwestkirchhof fand unter anderem„Nosferatu“-Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau seine letzte Ruhestätte, ebenso Arne Elsholtz, der deutsche Synchronsprecher von Tom Hanks, und die Schauspieler Manfred Krug und Jürgen Holtz sowie Showmaster Dieter Thomas Heck wurden hier beigesetzt. Der Friedhof, in Stahnsdorf nicht nur ein Ort der Ruhe, kein Ort nur für die Toten. Auch Unterhaltung findet hier ihren Platz. „Taucht dann mal ein Filmteam auf, nehmen die Leute das eher neugierig an“, sagt Ihlefeldt.

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